Dieter König – Neo Tauridae

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Wer eine typische Geschichte sucht, die mich persönlich charakterisieren könnte, der ist vielleicht mit dieser Story hier gut bedient. Sie erschien im Sammelband der gleichnamigen Science-Fiction Anthologie „Neo Tauridae“ unter meinem Namen.

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Neo Tauridae

Dieter König

Die Verhandlungen waren vorüber und es stand uns frei zu gehen wohin wir wollten. Ich stand mit Mireille auf einem der tausend Balkone des zentralen Wohnhügels der Tauriden, und wir schauten durch die mächtige Glaskuppel hinaus auf die zerklüfteten Klippen des Mondes Aimarai Taiam Daualin. Vor uns entfaltete sich eine Landschaft, die in ihrer fremdartigen Schönheit alle Hologrammfilme, die ich kannte, weit in den Schatten stellte. Hoch am Himmel thronte die Ankerwelt Ristikatulin. Der Planet füllte fast ein Viertel des Himmels. Mit seinen sieben Ringkränzen erinnerte mich das himmlische Kunstwerk an den Saturn, dem sechsten Planeten im heimatlichen Solar System. Sogar der dunkler erscheinende Ring der Cassini Trennung schien die gleiche Entfernung zum Planeten aufzuweisen wie das Vorbild im heimischen Raumsektor.
Die frappierende Ähnlichkeit ließ mich immer wieder zurückdenken an die Wochen vor dem Start der USS Fomalhaut auf dem Saturnmond Titan. Der einzige, offensichtliche Unterschied, verglichen mit dem Raumhafen auf Titan, waren die mächtigen Wohnhügel der Tauriden, und die fragil wirkende Konstruktion der Schutzkuppel. Das in allen Regenbogenfarben schimmernde Kunstwerk sollte sowohl unsere Gastgeber als auch uns vor der Methanatmosphäre des Mondes und der immensen Radiostrahlung des beringten Gasgiganten am Himmel schützen.
Mireille Rebérac, Botschafterin von Terra und Assistentin meiner Wenigkeit, sog hörbar den Atem ein.
„Man sollte meinen“, äußerte sie leise, „dass man all die Annehmlichkeiten, dass man die Freunde und die Bekannten vermissen würde, die so weit hinter dem Glitzervorhang der Sterne auf unsere Rückkehr warten.“
Ich hatte das Gefühl, sie wäre noch nicht zu Ende mit ihrer Rede, und so schwieg ich. Sie hob die Schultern.
„Dem ist nicht so“, fügte sie hinzu, und ich registrierte ein nahezu unmerkliches Staunen in ihrer Stimme. „Ich glaube, ich wäre imstande und ließe mich hier nieder, wenn ich mich meiner Verantwortung entledigen könnte.“
Ich nickte leise.
„Ja“, gab ich zurück. „Ja, ich kann Sie vollkommen verstehen. Ich wünschte mir, wir könnten die Lebensart der Tauriden, ihre Einstellung zum Universum, ihre Einstellung anderen Rassen gegenüber mit nach Hause nehmen. Aber das scheint wohl nicht gut möglich.“
„Wir könnten es“, erinnerte sie mich. „Die technischen Möglichkeiten sind vorhanden und das Risiko kalkulierbar. Stellen Sie sich nur vor, Joshua, keine Kriege, keine Hungersnöte, kein Hass und keine Zeitverschwendung mehr.“
Ich schnitt eine Grimasse.
„Sie wissen es so gut wie ich: Die Menschheit, mit ihren jetzigen, gesellschaftlichen Strukturen, ist keineswegs reif für einen solchen Schritt.“
„Und wann wird sie es sein?“
Ich hob die Schultern, wandte mich ihr zu.
„Nehmen wir einfach mal an“, sinnierte ich laut, „wir kommen mit unseren neuen Ansichten zurück und versuchen all die guten Ideen zu propagieren. Können Sie sich den Aufschrei vorstellen, der durch die verschiedenen Gesellschaftsschichten gehen würde, bis hinauf zu den Mächtigen, die noch vor dem Frühstück über das Wohl und Wehe gesamter Völker entscheiden?“
„Aber der Lohn“, drängte sie. „Binnen weniger Jahrhunderte, oder sagen wir Jahrtausende könnte die Menschheit in die Riege der Herrscher unserer Galaxis aufgestiegen sein.“
„Könnte …!“ es klang ein wenig sarkastisch. „Verzeihen Sie Mireille, ich würde mir nichts sehnlicher wünschen, als dass wir mit unseren Vorschlägen Gehör finden. Aber sobald wir verlangen, dass irgendein Mensch seine liebgewonnen Eigenheiten zugunsten einer größeren Idee opfern möge, erschaffen wir den ersten Vorkämpfer einer massiven Widerstandsbewegung.“
„Es muss doch eine Chance für Verbesserungswillige geben, oder zumindest jemanden, der bereit ist zuzuhören …!“
„Glauben Sie?“ Meine Worte klangen reichlich zynisch. „Die menschliche Natur steht dem geistigem Fortschritt im Wege. Der letzte Verbesserungswillige wurde vor ein paar Jahrtausenden ans Kreuz genagelt. Menschen lernen erfahrungsgemäß nur dann, wenn sie selbst die Idee haben, dass es ihnen einen Vorteil bringt. Wenn wir einem Alkoholiker erklären, dass es besser für ihn ist, dem Alkohol abzusagen, lacht er uns aus und erklärt uns, dass es ihm durchaus nicht besser gehen könnte. Nehmen wir einen Manager aus der Finanzwelt. Er wird sich niemals erklären lassen, dass es besser für ihn und seine Klienten wäre, wenn er die Geldgeschäfte niederlegen und stattdessen ein Gemeinschaftsprojekt zur Förderung der Überlebenschancen aller Humanoiden unterstützen würde. Obwohl es genau das ist, was uns einem rechtmäßigen Platz in der galaktischen Führungsriege näher bringen würde.“
Die zartgliedrige Lady an meiner Seite, mit dem schimmernden Diplomatenstern am Revers, schwieg. Sie verfolgte das erregende Schauspiel eines mächtigen Gasausbruchs, weit draußen in der Ebene hinter den scharfkantigen Klippen. Die Fontänen stäubten glitzernde Eiskristalle ins schwache Licht der beiden weit entfernten Sonnen, welche sich zu bewegten Bildmustern verwoben.
Mireille atmete nicht mehr so leicht wie noch kurz zuvor. Ihre dunkelbraunen Augen schimmerten feucht.
„Ach, Joshua“, kam es seufzend von ihr, „ich wünschte, es gäbe ein paar Lebewesen auf unserem Heimatplaneten, denen wir die Wichtigkeit einer, sagen wir mal ‚Galaktischen Vernunft’ nahebringen könnten.“
Ich suchte nach Worten, während ich meinen Blick hinüber zum Raumhafen schweifen ließ, auf dem die Fähre gewartet wurde, die uns zurück in die zehntausend Meilen hohe Umlaufbahn zur USS Fomalhaut bringen sollte.
„Menschen mit Vertrauen in die Zukunft sind selten geworden“, ließ ich dann verlauten. „Wir hätten wenigstens Tausend Jahre früher zurückkehren sollen. Damals gab es noch Tropenwälder am Amazonas und den letzten gerade neu entdeckten Stamm frei lebender Indianer. Sie glaubten noch, dass sie sich als Wesen weiterentwickeln und eine höhere Ebene erreichen könnten. Inzwischen sind allzu viele Jahre vergangen, die Enkel dieses ehemals freien Eingeborenenstammes liegen heute in biologischen Zweithautanzügen unter blitzenden Mentalkommunikatoren und steuern den Geldfluss ihrer im industriellen Netzwerk navigierenden Auftragsfirmen, und der einzige Aufstieg, den sie sich vorstellen können, ist der, zu einem cleveren Kopfgeldjäger, der sie meistbietend an suchende Firmen verleiht.“
Mireille Rebérac seufzte hörbar.
„Wir haben an eine große Chance geglaubt, als sie uns in die Umlaufbahn von Titan schossen. Wir waren der festen Überzeugung, dass wir Technologisches Wissen zurück zur Erde bringen würden. Technologisches Wissen, welches uns allen das Leben leichter machen würde. Wir haben tatsächlich Technologisches Wissen gefunden, allerdings in einer Qualität, die sich kein Mensch hätte erträumen lassen. Nun sollen wir trotzdem mit leeren Händen zurückkommen und den Leuten zu Hause erklären, dass sie nicht reif für dieses Geschenk sind?“
„Und was wäre Ihrer Meinung nach die Alternative?“
Mireille Rebérac nickte. „Das ist die Frage“, äußerte sie leise. „Genau das ist die Frage …!“

Abschied vom Mond Aimarai Taiam Daualin. Abschied von unseren neu gewonnenen Freunden! Wir drückten den Tauriden die Hände, oder das, was man bei ihren insektengliedrigen Extremitäten Hände nennen konnte. Ein Händedruck war nicht ihre Art, sich zu verabschieden, es war die unsere. Aber diesen Wesen wohnte die Bereitschaft inne, sich auf die Gewohnheiten andersartiger Rassen einzulassen, ohne in irgendwelche Reaktionen zu verfallen, wie wir sie von der menschlichen Spezies her kannten. Reaktionen wie Fremdenhass, Unterlegenheitsgefühle, Überheblichkeitswahn oder ähnliches. Solches waren fremde Begriffe für sie. Diesen zerbrechlich wirkenden Lebewesen fehlten all jene Attribute, die es uns Menschen auf der Erde unmöglich machten, wirkliche Kommunikation miteinander zu führen.

Unser Protokoll geriet durcheinander, als Mireille Rebérac feststellte, dass drei Besatzungsmitglieder fehlten. Dies war ein unduldbarer Verstoß gegen das Reglement, denn jedes einzelne Mitglied des Diplomatischen Corps war korrekt über den Abreisetermin unterrichtet worden. Jeder Einzelne hatte den Empfang der Nachricht offiziell bestätigt.
Gerade war ich im Begriff einen Suchtrupp zusammenstellen zu lassen, da langte einer der Ältesten der Tauriden bei unserer Delegation an und wandte sich direkt an mich.
„Ihre Freunde haben sich“, erklang es aus meinem Translator, „aus einer höheren Erkenntnis heraus entschieden, gegen Pflicht und Ordnung zu verstoßen. Sie lassen Ihnen, als offiziellem Leiter der Delegation, ausrichten, dass sie im Bogen der singenden Orchidee einer persönlichen Aussprache entgegensehen.“
Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ein solches Verhalten war unduldbar. Es könnte ernste Diplomatische Verwicklungen nach sich ziehen.
Aber plötzlich liefen meine Gedanken nicht mehr im Kreis. Sie bündelten sich, strebten einem gemeinsamen Höhepunkt zu und gipfelten dort in einer einzigen Erkenntnis: Unter den gegebenen Umständen hatte ich nicht die Macht diese drei Abtrünnigen zu einer Rückkehr zu bewegen, selbst dann nicht wenn ich versuchte, sie mit Waffengewalt zu zwingen. Sie hatten in den Tauriden die ideale Schutztruppe gefunden. Eine Schutztruppe, die zwar jegliche Gewaltanwendung ablehnte, die ihrerseits jedoch bereit war, unter Einsatz ihres eigenen Lebens, Gewalt von Verbündeten abzuhalten.
Ich steckte also tief in der Klemme; denn wenn es nicht die eigene, freie Entscheidung der drei Corps-Mitglieder war, ordnungsgemäß mit uns zurückzukehren, dann würde ich es sein, der nach der Landung auf Titan den Kopf für ihre Eigenwilligkeit hinhalten musste.
Ich ließ mir ein weiteres Mal alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten durch den Kopf gehen, rechnete erneut die Chancen durch und bezog dabei sogar Interstellare Verwicklungen und militärische Auseinandersetzungen in die Rechnung mit ein.
Keine Chance. Selbst dann nicht. Gewaltanwendung war hier weniger denn je eine Lösung.
Mireille Rebérac wandte sich mir zu.
„Ich würde gerne mit den Herrschaften reden“, schlug sie vor. „Ich bin, wie es scheint, die einzige Person, die ein engeres Verhältnis zu ihnen hat; wir waren einst zusammen auf der Diplomatenschule. Wenn ich es nicht schaffe, sie zu überzeugen, dann fürchte ich, müssen wir uns tatsächlich auf dem Heimweg eine Erklärung zusammenbasteln.“
Ich schaute sie lange an. Sie war schön und tüchtig, aber auch verletzlich.
„Sie wissen was auf dem Spiel steht?“, erkundigte ich mich bei ihr. „Es geht nicht allein um den kühlen Kopf unseres Präsidenten. Es geht vor allem um die Hitzköpfe der Allianz, deren wichtigstes Argument sich bislang im Ernstfall stets auf den Wert einer adäquaten Militärische Abschreckung bezogen hat.“
Sie schenkte mir den Anflug eines Lächelns.
„Ich danke Ihnen, Joshua. Auch – und vor allem – dass Sie sich Sorgen um mein Wohlergehen machen. Das ist gut gemeint. Aber noch habe ich nicht mit unseren drei Herrschaften gesprochen. Und selbst im Ernstfall … ich werde zu argumentieren wissen.“
Es dauerte länger als eine Stunde. Aber als Mireille Rebérac zurückkam, trug sie den Kopf auffallend hoch. Ich entnahm zum einen ihrer Körperhaltung, dass sie ihre Freunde wohl nicht hatte überzeugen können, und zum anderen beschlich mich das untrügliche Gefühl, dass dieser Zwischenfall noch lange nicht zu Ende war, ja dass die Weigerung der drei Diplomaten gar der Auftakt zu einem wirklich dramatischen Zwischenfall sein könnte.
Und ich hatte Recht.
Kurz nach dem vollständigen Bericht von Mireille Rebérac traten aus der Phalanx reisebereiter Diplomaten nacheinander drei Frauen und fünf Männer heraus, nickten mir zu und stellten sich hinter die Tauriden. Ich brauchte sie gar nicht erst zu fragen, was diese stumme Geste zu bedeuten hatte. Ihre Blicke begegneten dem meinen ohne Scheu und ohne jegliche Zurückhaltung. Einer von ihnen hob wenigstens halbwegs die Schultern, blieb aber trotzdem hinter den Tauriden stehen.
Mireille Rebérac wandte sich mir unvermittelt zu und schaute mich direkt an. Ihr Kopf war immer noch hoch erhoben. Ihre wunderschönen, dunkelbraunen Augen aber waren so klar wie nie zuvor. Ich wusste schon Augenblicke bevor sie den Mund öffnete, was sie nun zu mir sagen würde. Ich wusste es, noch ehe sie es artikuliert hatte. Aber ich konnte mich gegen das Kommende einfach nicht zur Wehr setzen, weil ein großer Teil in mir mit ihren Gedankengängen übereinstimmte.
Endlich schöpfte sie Atem.
„Tut mir leid, Joshua“, äußerte sie, und irgendetwas, das sich in ihrem Hals festgesetzt hatte, ließ ihre Stimme befremdlich klingen. „Es ist nur bedingt eine persönliche Entscheidung. Wir wissen beide, dass die Menschheit – so wie wir sie kennen – keine Chance auf Akzeptanz in der Intergalaktischen Gemeinschaft hat, und die anderen Diplomaten wissen es auch. Es sei denn, jemand, der fähig genug ist, setzt sich für die menschliche Rasse ein. Eine Gruppe, die bedingungslos bereit ist, zu lernen. Eine Gruppe, die sich ihrem angestammten Einfluss entzieht, die aber groß genug wäre, um selbst zu überleben.“
Sie schaute sich um und schien die Abtrünnigen zu zählen, ehe sie sich zurück an mich wandte.
„Wir sind im Augenblick nur zwölf Personen, die bereit sind, sich selbst für den leisen Schimmer einer Hoffnung zu opfern. Sicherlich zu wenige, um eine eigene Kultur zu erschaffen. Aber wenn wir es nicht wenigstens versuchen, lassen wir es zu, dass wir den Anschluss an die überlebensfähigen Völker der Galaxis verlieren und – vielleicht für immer – in Quarantäne bleiben.“
Sie deutete hinter sich, wo die fünf Frauen und Männer aufrecht hinter den Tauriden standen. „Ich habe mich entschlossen“, fuhr die Ex-Diplomatin fort, „meine Dienste den ersten elf Neo Tauridae anzubieten. Eine einzige Person mehr oder weniger, könnte meiner Meinung nach über das Wohl und Wehe der neuen Rasse entscheiden.“
Was sie sagte, versetzte mir einen Stich. Ich hätte etwas entgegnen müssen. Sicherlich gab es durchaus Argumente. Aber während ich überlegte, traten mehr und mehr Leute aus den Reihen unserer Diplomaten heraus, verließen die Phalanx und stellten sich, einer nach dem anderen, hinter die Tauriden. Ich schüttelte benommen den Kopf und versuchte abermals Argumente gegen diesen Wahnsinn zu äußern, aber Mireille kam mir zuvor.
„Ich weiß“, sagte sie, „dass wir alle unsere menschlichen Werte aufgeben müssen. Aber Werte wie die Unantastbarkeit einer ehelichen Beziehung oder die Vorstellung von persönlichem Besitz sind für den Kampf des Überlebens als neue Rasse nicht länger von Bedeutung. Vor allem werden wir lernen müssen, einander rückhaltlos zu vertrauen, und das ist eine neue Fähigkeit, die wir erst noch erlernen müssen. Nun, ich bin bereit, all diese Opfer zu bringen, wenn wir dafür die Chance erringen, als Wesen von höherer Vernunft in die Gemeinschaft der Galaktischen Völker aufgenommen zu werden.“
Sie schwieg, begegnete aber meinem Blick mit ungewohnter Festigkeit.
Es blieb still. Nur die Schritte weiterer Abtrünniger waren zu hören, die einer nach dem anderen ihren Platz verließen und sich hinter die Tauriden stellten.
Ich schüttelte abermals den Kopf.
„Versteht ihr denn nicht“, sagte ich laut in den Raum hinein, so dass es alle hören konnten. „Das bedeutet den Abbruch der Diplomatischen Beziehungen! Die Verantwortlichen der heimischen Allianzen werden sich das nicht gefallen lassen. Sie werden die Tauriden für unseren Treuebruch verantwortlich machen, und eine Konfrontation in dieser Größenordnung ist genau das, was wir als Diplomatische Abgesandte unter keinen Umständen heraufbeschwören dürfen.“
Eine Hand legte sich von hinten auf meine Schulter. Ich wandte mich um und blickte in das Gesicht eines grauhaarigen Mannes. Auch er sah mich fest an.
„Es wird keine Konfrontation geben“, behauptete er knapp. „Auf den Servern der USS Fomalhaut sind die Berichte unserer Treffen abgespeichert. Sie signalisieren die grundsätzliche Bereitschaft der Tauriden, die Menschliche Rasse in die Galaktische Gemeinschaft einzugliedern, und die Bedingungen sind bereits formuliert.
Auch wenn diese Bedingungen unter den gegebenen Umständen nicht erfüllbar sind, so verhindern sie jedoch mit Sicherheit eine Schuldzuweisung, wenn wir uns geschickt verhalten. Geschickt eben, wie es eigentlich nur Diplomaten gegeben ist.“
Ich verstand den Sinn seiner Worte nicht.
„Würden Sie mir bitte Ihre Gedanken ein wenig erläutern?“
Mireille Rebérac fing meine Aufmerksamkeit ein, ehe er antworte konnte.
„Wir sind doch Diplomaten“, erklärte sie mir noch einmal das Offensichtliche, „und wir sollten durchaus in der Lage sein, eine durchführbare, aber sichere Lösung zu erarbeiten. Eine Lösung, die eine drohende Konfrontation von vornherein auszuschließen in der Lage ist.“
Ich schaute von einem zum anderen, traf aber nur auf entschlossen wirkende Mienen. Beschwörend breitete ich die Arme aus.
„So sagt mir“, erkundigte ich mich bei den Rebellen. „bin ich wirklich der einzige, der als Märtyrer allein die Rückreise antreten soll?“
Mireille legte mir die Hand auf die Brust.
„Was spricht dagegen, zu bleiben und mit uns gemeinsam den Keim für eine neue, vernunftbegabte und vorzeigbare Rasse zu legen?“
Ich schöpfte tief Atem.
„Wäre ein solcher Schritt“, erkundigte ich mich, „wirklich das Vernünftigste, das wir tun könnten? Und wenn ja, wie würden wir einst unseren Heimatplaneten aus der Quarantäne erlösen können?“
Ich sah die Antwort in ihren Augen:
Es gab in der Tat nicht wirklich eine Chance für Menschen, die hart daran arbeiteten, andere Leute in Armut zu halten, nur damit sie selbst Reichtum, Einfluss und Macht vergrößern konnten. Es gab keine Chance für Kopfgeldjäger. Und es gab so gut wie keine Chance für Straßenkinder, die gelernt hatten, das Bisschen, das sie ihr Eigen nannten, mit dem blanken Messer zu verteidigen. Es gab keine wirkliche Chance, weder für die Haifische im Karpfenteich, noch für die Unterdrückten und Geknechteten.
Nein, eine Chance hatten wohl nur die wenigen Menschen, deren Vorstellungsvermögen den Gedanken an eine Ausweitung ihres Verantwortungsbewusstseins zuließen und deren Kontostand ausreichte, die Welten der Galaktischen Allianz als Ziel in einen eigenen Navigator speisen zu können. Und selbst dann noch würden einige der Willigen scheitern, weil ihnen das Durchhaltevermögen fehlte.
Ich löste mich aus meinen Gedanken, mit der aufkeimenden Hoffnung im Herzen, dass es für unsere winzige Gruppe tatsächlich eine Chance für einen Neuanfang geben könnte.
„Also gut!“, stimmte ich zu. „Volles Risiko! Allerdings brauchen wir einen wasserdichten Plan …“

Mireille stand mit mir auf einem der tausend Balkone eines der peripheren Wohnhügel der Tauriden, und wir schauten durch die mächtige Glaskuppel hinaus auf die zerklüfteten Klippen des Mondes Aimarai Taiam Daualin. Vor uns entfaltete sich eine Landschaft, die in ihrer erhabenen Schönheit alle Vorstellungen terranischer Künstler weit in den Schatten stellte. Über dem Horizont waren bereits die ersten Ringausläufer der Ankerwelt Ristikatulin zu erkennen. Der Planet würde also binnen weniger Minuten seinen verwaschen wirkenden Globus über die Klippen erheben und versuchen, den Zenith des sternenerfüllten Himmels zu erklimmen, während er dabei gut ein Viertel des sichtbaren Himmels verdeckte. Über den Ringen, einem weiteren Mond gleich, zog ein besonders heller Stern seine Bahn am Firmament; die weit entfernte, von der majestätisch anmutenden Ankerwelt Ristikatulin in ihrer Erhabenheit enttrohnte Sonne dieses wunderbaren Sternsystems.
„Wunderschön!“, äußerte Mireille. „Beglückend und erhebend. Die gemeinsamen Kinder unserer neuen Rasse werden mit diesem Anblick aufwachsen. Sie werden ihn niemals mit dem Sonnenuntergang in den Rocky Mountains vergleichen können, aber sie werden die ersten Menschen sein, die ohne Neid und Hass aufwachsen.“
Ich schaute sie lange an. Dann gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Danke“, sagte ich. „Danke, dass du mich als ersten Vater deiner Kinder auserwählt hast.“
Sie lächelte sanft. „Danke, dass du bereit bist, sie und uns alle zu beschützen. Sie werden dir dafür ein Denkmal setzen, glaube mir.“
Ich wandte den Blick nach Süden, wo über den Klippen ein neuer Stern aufging. Das unbesetzte Shuttle verließ den Raumhafen, auf einem Kurs, an dessen Ende das Rendezvous mit der USS Fomalhaut wartete. Doch die Fähre würde ihren Bestimmungsort nie erreichen.
Mireille hob die Hand und deutete hinaus auf den leuchtenden Schemen. Zwei Raketenbooster schossen die Überlebenskapseln der beiden Piloten aus dem Raumfahrzeug hinaus und hinauf in den Orbit, wo sie in der nächsten halben Stunde von den Rettungseinheiten der USS Fomalhaut aufgesammelt werden würden. Das Shuttle selbst begann zu schlingern und neigte schließlich seine Bahn den südlichen Ebenen des Ristikatulinmondes Aimarai Taiam Daualin zu. Die Leuchtspur der Triebwerke am Heck der Fähre erlosch. Und dann entfaltete eine leuchtende Blume ihre Blätter, überstrahlte den Glanz der beiden blassen Sonnen und füllte den Himmel mit einem Kaleidoskop wunderschön anmutender Farben.
„Ein Grab für viele Millionen Credits“, konstatierte ich leise, „aber ein perfektes Alibi für unser plötzliches Verschwinden.“
Mireille lächelte mir zu. „Und zudem ein vertretbarer Preis für unsere Zukunftsaussichten als Neo Tauridae.“
Ich nickte ernst. „Ich hoffe, du hast Recht. Und ich hoffe, es finden noch weitere Menschen den Weg zu uns, wenn sie denn fähig sind, ihn zu erkennen.“
Sie lächelte mir erneut zu, während Ristikatulin, der Ringplanet, sich majestätisch langsam über den zerklüfteten Horizont erhob.

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