Monster, Mythen, Ungeheuer
Making of „Bestiarium“
Unheimliche Begegnungen mit mystischen und mythischen Geschöpfen beflügeln die Fantasie der Menschen schon seit Jahrtausenden.
Berichte von furchterregenden Monstern, Ungeheuern der Urzeit, monströsen Mischwesen, grausigen Gestaltwandlern oder geheimnisvollen Tiermenschen faszinieren bis in die heutige Zeit.
Was also lag näher eine Geschichtensammlung zu initiieren, die sich mit sonderbaren Mensch-Tier-Metamorphosen, schaurigen Kreaturen und archäologischen Anomalien beschäftigt. Die Idee, diesen unheimlichen Wesen eine eigene Anthologie zu widmen, war geboren. Bei der Suche nach einem passenden Titel wurde ich rasch fündig, den bereits im 1.Jahrhundert n.Chr. gab es den „Wiener Codex – Materia medica“ in dem der Autor Dioskurides die vermutlich erste Abbildung eines Basilisken präsentierte. „Bestiarien“ nannte man die wissenschaftlichen Werke später, in denen bekannte Tiere gleichberechtigt neben Wesen aufgeführt wurden, die man heute ins Reich der Fantasie verbannt hat.
„Die Bestiarien waren die Versuche der Menschen der Antike und des Mittelalters ihre Umwelt zu erfassen. Wurden in jene Wesen aufgenommen, von denen wir heute wissen, dass sie einzig ins Reich der Phantasie gehören, sollte es unsere Achtung vor jenen Bemühungen nicht schmälern. Aber ist die Aufnahme von Drachen und Einhörnern, Greifen und Basiliken und vielen mehr wirklich ein Fehler, oder haben diese Wesen auf Grund ihres Einflusses auf Generationen von Menschen -ihren Vorstellungen und Träumen- ihren Platz in den Bestiarien nicht mehr als verdient?“, schreibt unser Autor Tim Pollock, der sich in seiner Geschichte der geflügelten Harpyie annimmt. „Wie die bereits genannten Wesen, hat auch die Harpyie einen Platz in unserer Geisteswelt. Der Kern ihrer Anziehungskraft und der Grund warum ich ihr meine Geschichte gewidmet habe, ist für mich ihre perfekte Verschmelzung von Mensch und Tier. Wie groß ist die Freiheit, die ihr ihre Schwingen bieten? Wie groß ihr Zorn, dass Zeus sie zum Vollstrecker seines Willens machte? Vor meinem geistigen Auge sehe ich ein Wesen dessen Anmut und Wildheit mich gefangen nimmt und ich hoffe diesem Bild mit meiner Geschichte gerecht zu werden.“
In der Neuzeit sind es die oft belächelten Kryptozoologen, die den Fabelwesen mit wissenschaftlicher Akribie zu Leibe rücken und nach Beweisen für deren Existenz suchen. Dabei geht es um Wesen wie Nessie, den Big Foot, den Yeti oder auch den Chupacabra, der wiederum Inspirationsquelle für den „Scherbenmann“ war, den Johannes Kratzer verfasst hat. „Seltsame Bestien und Monster faszinieren mich seit ich denken kann. Als Kind hegte ich zum Beispiel den Verdacht, dass im Dachgeschoss eines verfallenen Hauses in unserer Straße ein schauerliches Etwas lebte. Besonders suspekt erschien mir auch der nahe Wald und all die Dinge, die bei Nacht möglicherweise aus seinen Tiefen gekrochen kamen und sich in die Welt der Menschen wagten.
In meiner Jugendzeit stieß ich dann auf die Ausgabe einer Zeitschrift, die ganz dem Thema Kryptiden gewidmet war – Geschöpfen, die angeblich in einsam gelegenen Landstrichen oder den Tiefen des Meeres leben. Auch wenn die Quellenlage jener Artikel vermutlich eher fragwürdig war, erinnere ich mich gerne an das wohlige Schaudern, dass mir dieses Bestiarium bereitete.
Eine ordentliche Portion Gänsehaut verdanke ich auch dem Chupacabra, schließlich hinterließ dieses Wesen nicht die üblichen verwischten und undeutlichen Fußabdrücke, sondern gleich reihenweise leergesaugte Tierkadaver. Das ominöse Treiben dieses ‚Ziegensaugers’ diente auch als Vorbild für meine Geschichte.“
Zu Beginn der 90er Jahre fand der amerikanische Hobbyarchäologe Frank Pryor ein Skelett, das sich jeder Klassifizierung widersetzte und daher auch mit dem Chupacabra in Verbindung gebracht wurde.
Was aber fasziniert Menschen derart, dass sie sich für Feldforschung sogar in die abgelegensten Gegenden der Welt wie den Himalaya begeben und dabei bisweilen ihr Leben riskieren? Nur um von ihren Mitmenschen ausgelacht zu werde, wenn sie erneut keinen Beweis für die Existenz des Yeti finden konnten?
Das Wiederaufleben des Abenteurertums aus vergangenen Jahrhunderten oder die Furcht in einer Welt leben zu müssen, die alles erklärt hat? In der es keine Geheimnisse mehr gibt?
Tino Falke begleitet einen dieser Abenteurer auf seiner Suche in den Dschungel: „Einer der wichtigsten Aspekte des Genres ist natürlich eine beklemmende Atmosphäre, die den Leser schon vor dem Auftauchen irgendwelcher Ungeheuer darauf einstimmt, dass nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Meine Geschichte führt den Leser in den tropischen Urwald Südamerikas, schon ohne Horror-Elemente eine fremdartige, unkontrollierbare Umgebung, weit weg von allem Bekannten, das einem Sicherheit geben könnte. Dazu kommen das ungewöhnliche Verhalten der Tiere dort, ein nicht unbedingt objektiver Erzähler und die Ungewissheit, ob es sich beim Grauen im Dschungel um ein normales Raubtier handelt oder doch um eine Kreatur, die eines Bestiariums würdig wäre.
Ausgehend von diesen Gedanken entstand ein Text über Fressen und Gefressenwerden, den Konflikt zwischen Jung und Alt (bzw. Uralt), das Monströse im Menschen und Menschen, die gern in Monstern wären. Denn so faszinierend fantastische Wesen auch sind, für das wahrhaft Ungeheure sind meistens doch wir selbst verantwortlich.“
Neben dem Dschungel, den Eiswüsten oder versunkenen Königreichen, sind auch Höhlen voller Geheimnisse und seltsamer Kreaturen, die sich dort verbergen. Dort fand unser Autor Florian Krenn seine Bestie.
„Die Idee über ein Wesen in den Bergen oder Höhlen zu schreiben, beschäftigte mich schon länger. Der Ausschreibungstext für das Bestiarium passte demnach wie die Faust aufs Auge! Aber welches Biest sollte es werden? Auf der einen Seite sollte es ein bekanntes Wesen sein, auf der anderen Seite aber nicht zu ‚Mainstream‘ um nicht den fünften Beitrag zu einem Geschöpf beizusteuern, sondern die Palette zu erweitern. Idealerweise sollte es in den Alpen beheimatet und Sagen darüber bekannt sein.
Nach langem Herumrätseln erinnerte ich mich an ein Buch aus meiner Kindheit, das ich auch an dieser Stelle empfehlen möchte: „Der Schatz im Ötscher“. Es geht – wie nicht schwer zu erraten ist – um einen Schatz, den es tief in den Ötscherhöhlen geben soll. Das Ganze ist als Spielbuch aufgebaut, bei dem man – je nachdem wie man sich entscheidet – wo anders weiterlesen muss. Dabei konnte man je nach Verlauf einem Basilisken begegnen.
Nachdem es auch Höhlensagen von Basilisken im Ötscher gibt, war meine Suche beendet. Nun ging es mit der Recherche los: Was genau ist bekannt? Gibt es Höhlenkarten und wie ist die Höhle aufgebaut? Vokabular, verwendete Ausrüstung, etc. mussten noch erarbeitet werden. Zum Glück ließen sich zahlreiche Seiten von Höhlenforschern und Verbänden finden und vereinzelt Kartenmaterial.
Nach dem Wissensaufbau ging es ans Schreiben. Beim Korrekturlesen ist es dann wichtig, das Fachliche zu Gunsten der Lesbarkeit wieder zu reduzieren. Man prahlt ja (gerade wenn man sich viel mit einem Thema beschäftigt) gern mit dem was man weiß. Meist wird es dann zu viel des Guten – Es soll ja eine Kurzgeschichte und kein Aufsatz zum Thema Höhlenkunde werden.“
Auch bei Florian Krenn spielt die Furcht vor dem Unbekannten eine nicht unerhebliche Rolle – und dem Umgang damit. „Furcht ist so alt wie die Welt“, heißt es. Die Autorin Julia Lehn stellt sich dieser Frage: „Wovor fürchten wir uns? Diese Frage ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst – und doch wird sie vermutlich jeder anders beantworten. Dunkelheit, Höhe und das Unbekannte an sich stehen in der Regel sehr weit oben auf den Listen. Alles gern bemühte Horror-Stoffe. Doch es gibt noch ein weiteres Element, welches sich bereits in den frühesten Legenden findet und bis heute seine Faszination nicht verloren hat: das Verschmelzen von Mensch und Tier. Ob dies nun Kreaturen sind, die zwischen beiden Gestalten wechseln können – bisweilen sogar müssen –, oder ob es sich um unheimliche Mischwesen handelt, die entweder als Chimären die Welt durchziehen oder um Bestien mit menschlichem Verstand, macht in den Mythen meist keinen großen Unterschied. Stets stellen sie für die Menschen eine besondere Gefahr dar, die häufig nur von Helden gebannt werden kann.
Aber was ist es, das uns solche Schauer über den Rücken laufen lässt, wenn wir an diese Kreaturen denken? Wahrscheinlich ist es nicht der Glaube, dass hinter der nächsten Ecke das hungrige Ergebnis eines missglückten Alchemieexperiments auf uns wartet. Ich denke, dass die Geschichten von Werwölfen, Vampiren, menschenverschlingenden Sphinxen und stierköpfigen Menschen eine viel elementarere Angst in uns ansprechen: das Tierische, Unberechenbare in uns, das tief in den Genen der Menschheit schlummert. Bereits die antike Mythologie lehrt, dass die besagten Ungeheuer nicht grundlos entstehen. Sie sind häufig das Resultat von menschlichen Verfehlungen wie Gier, Rache oder Eifersucht. Deshalb habe ich mich für den Minotaurus als „Bestie“ in meiner Geschichte entschieden – seine Legende beinhaltet alle Elemente. Eine Verfehlung führt zur nächsten, die sogar noch schlimmere Folgen nach sich zieht als die vorherige. Hier braucht es wirklich einen mutigen Helden, um diesen Kreislauf zu durchbrechen!
Doch was passiert, wenn der strahlende Held versagt oder letztendlich gar keiner ist? Wenn auch er nur menschlichen Schwächen unterworfen ist? Hätte sein Versäumnis – seine Lüge – nicht tiefgehende Folgen, die uns die Legenden vorenthalten …?“
Der menschliche Aspekt im sogenannten Ungeheuer ist ein wichtiger Faktor auf der Suche nach dem Grund für die Faszination am „Monster“. Ist es letztlich das „Monster in uns“, das Zerrbild des Menschen, das Nicole Grom in ihrer Story „Die Früchte unserer Angst“ beschreibt?
„An Monstern fasziniert mich deren Zugehörigkeit zum Menschen. Literarisch hege ich kein großes Interesse für Ungeheuer, die aus einer Parallelwelt oder den Weiten des Universums stammen und uns ‚fremd‘ gegenüberstehen. Schon die traditionelle Vorstellung von ‚monstra‘ hängt vielmehr eng mit dem Menschen zusammen. Wenn Kirchenvater Augustinus sagte: ‚monstra sunt in genere humano’, bezeichnete er ‚Monster‘ als Teil des Menschengeschlechts. Wenn man also äußert, sie seien ‚Ausgeburten der Hölle’, verweist man das Problem, dass wir als Menschen – ob wir wollen oder nicht – mit Monstern konfrontiert sind, in einen Bereich, der (vermeintlich) nichts mit den Menschen zu tun hat.
Doch psychologisch funktioniert das nicht so leicht. Denn jeder Mensch birgt seine Dämonen. Genau – es handelt sich um die, die manchmal mit den Fäusten gegen diese Decke aus Stahlbeton hämmern, tief in unserem Innern. Stellen wir uns ihnen (und unseren schlechten Eigenschaften, die sie verkörpern), nehmen wir uns ihrer an? Begreifen wir sie als Mahnung? Oder reagieren wir nicht und lassen es zu, dass sie über uns hinauswachsen, sich abnabeln und den Weg ins Freie finden, wo sie ungestört ihr Unwesen treiben können?
Monster sind einerseits Abbild, andererseits aber auch Zerrbild des Menschen. Das Gegenteil des göttlichen Ebenmaßes, die missgestaltete Version unserer selbst. Mischwesen, sozusagen. Wir nähren sie mit unseren Taten und Gedanken; ohne uns könnten sie nicht sein. Sie existieren nur durch die Gedankenwelt des Menschen. Eine Welt ohne den Homo Sapiens bedeutete auch für die Monster das Ende – mit dem letzten Erdenkind stürbe das letzte Ungeheuer. Doch auch wir bedürfen ihrer. Wie könnten wir uns ohne sie in einer Welt zurechtfinden, in die wir mit der Geburt hinein- und aus der wir mit dem Tod hinausgeworfen werden? Sie stellen die von uns bitter benötigte Inkarnation des Unerklärlichen, des Bodenlosen und Verdrängten dar. Wir sind aufeinander angewiesen.
Dass es das menschliche Denken ist, das die Monstra gebiert, bildet die ‚Grundannahme‘ meiner Erzählung ‚Die Früchte unserer Angst‘. Zugleich betrachtete ich die mythologische Welt der Südslaven etwas genauer, in der die Kynokephalen oder ‚Hundsköpfigen‘ als Bewohner benachbarter Wälder eine bedeutsame Rolle spielten. Diese ‚Pesoglavci‘ jagen mir persönlich von allen ‚Monstern‘ die meiste Angst ein, weil man sie als Verschmelzungen des Menschen mit seinem liebsten ‚Haustier‘, dem Hund, sehen kann. Dass Hunde aber in der Vorstellung vieler offenbar doch als nicht vollständig domestiziert und beherrschbar gelten, lässt diese alltäglichen, vermeintlich vertrauten Wesen leicht zu Verteufelungen menschlicher Sünden und Schwächen werden. So ist es in meiner Geschichte die Angst (letztlich als Gegenbegriff zu ‚Gottvertrauen‘), welche die Kynokephalen hervorbringt und sie vervielfacht – mit tödlichem Ende.“
Ist es bei Nicole Grom die Angst, bei Francesco de Goya der Schlaf der Vernunft, so ist es bei vielen Anderen die Unwissenheit, die Ungeheuer gebiert. Oder ganz einfach der Mensch selbst, wie bei Andrea Timm in „Ausgemustert“.
„Auf der Suche nach einer Bestie kamen mir als erstes die Menschen selbst in den Sinn“, erklärt die Autorin. „Menschen, die einander bekämpfen, ja sich gegenseitig abschlachten. Menschen, die all ihre Begabungen und ihren Erfindungsgeist in die Zerstörung anderer stecken. Menschen, die Biowaffen entwickeln und dabei andere zu Versuchskaninchen machen. Aus diesem Grund sind die wahren „Bösen“ in meiner Geschichte Menschen, die eine Bestie erschaffen haben, um andere zu vernichten.
´Krieg ist eine blutrünstige Bestie´ wurde einmal im Spiegel zitiert. Es ist doch vorstellbar, eine lebendige Biowaffe zu entwickeln, ja sogar eine ganze Armee davon. Ob die Sieger dieser Bestie dann noch Herr werden würden, bleibt dahin gestellt. Diese Möglichkeiten der Forschung und die Unfähigkeit der Menschen, sie zu beherrschen, machen mir Angst. Eine Bestie, die die tiefste Todesfurcht auslösen kann, besteht sowohl in der Phantasie als auch in der Realität. Erst die Vorstellung von todbringender Geschwindigkeit einer Giftspinne lässt eine harmlose Schnake angsteinflößend wirken. Die bemitleidenswerte Hauptperson in
meiner Geschichte sieht sich einem unbekannten Monsteraffen gegenüber, während sich in seinen Gedanken die Geschichte des Sun Wukong mit dem echten Ungeheuer verbindet und es dadurch noch furchterregender wirken lässt.“
Selbstverständlich sind Legenden – wie die des Sun Wukong – ein unerschöpflicher Fundus. Auch das Beispiel der „Perchten“, denen Hans Jürgen Hetterling nachspürt, legt Zeugnis davon ab: „Eine einsame, verschneite Berghütte. Elektrizität gibt es noch lange nicht. Geschweige denn Telefon. Das bedeutet, keine Verbindung nach draußen. Keine Möglichkeit, Kontakt mit irgendjemandem aufzunehmen oder Hilfe zu holen. Die nächste Hütte ist Meilen entfernt und nur sehr schwer zu erreichen. Wenn die Wege verschneit sind, so wie heute Nacht, vielleicht überhaupt nicht.
Im Ofen knistert ein Feuer. Die Kerze auf einem einfachen Holztisch stellt die einzige Lichtquelle dar. Draußen fegt ein eisiger Sturm um die schroffen Felsen. Fängt sich im Dachfirst und heult schaurig. Es klingt fast wie Dämonenstimmen.
Eine alte Frau sitzt am Spinnrad und erzählt, mit leiser, unheimlich flüsternder Stimme. Die jüngeren Frauen, Mägde an ihren Spinnrocken, hängen gebannt an ihren Lippen. Das Kerzenlicht spiegelt sich in ihren Augen, die vor Angst geweitet sind.
Auf einmal ein dumpfes Pochen an der Türe. Laut wie Schläge mit einem Hammer. Schatten vor den Fenstern. Schellen erklingen …
So könnte sie sich abgespielt haben, die archetypische Urszene des Erzählens von Geschichten über die Welt, das Dunkel, die Träume und die Angst – genauer: der Versuch, diese Angst zu bannen. Die Furcht vor dem Ausgeliefertsein an eine unheimliche, übermächtige Natur, vor allem in der Finsternis des Tiefwinters, in der geheimnisvollen Zeit zwischen den Jahren, den Raunächten.
Lange Zeit bevor Ann Radcliffe, Horace Walpole, Poe, Lovecraft und viele andere im angloamerikanischen Raum das Genre der Schauerliteratur schriftlich definierten, findet sich ein Strom lebendiger, ursprünglicher Erzählkraft in den mündlichen Traditionen ländlich-bäuerlicher Gemeinschaften, in denen dieses Erzählen vielfältige gesellschaftliche Funktionen aufweist – und eben immer wieder um die Furcht kreist, der sie stets aufs Neue dämonische, doch eben auch: Dämonenbannende Gestalt verleiht. Die eigentlichen Ursprünge dieser Tradition dürften so alt sein wie die ersten sprachbegabten Menschen, die sich um ein Feuer scharten, inmitten von endlosen Wäldern mit ihren Geräuschen, Dunkelheit und Kälte. An ihrer Funktion dürfte sich nichts geändert haben.
Ursprünglich hatte ich nach heidnischen Spuren im etablierten Glaubenssystem der Alpenregionen gesucht – die sich keineswegs ohne weiteres nachweisen lassen – und gefunden vielfältige an Sagen und Legenden gebundenen Wurzeln der Schauerliteratur im Maskenbrauchtum des Krampus, der Perchten, und der unheimlichen, und wahrhaft schauerlichen Erzählungen, die sich um jene fellbekleideten Gestalten mit ihren Teufelsfratzen ranken.
Versinnbildlichen sie die Todsünden? Die Nacht, die sie ausgespien hat, den Winter? Sollen sie den „echten“ Dämonen signalisieren, ihr müsst nicht mehr kommen, schaut, ihr seid schon da? Strafen sie mit ihren Peitschenhieben oder übertragen sie Fruchtbarkeit und Segen fürs neue Jahr damit?
Woher rührt ihr Faible für saubere Bauernstuben? Für junge Mädchen? Warum dürfen nur unverheiratete, junge Männer die Masken tragen und so das uralte Brauchtum lebendig halten?
Die zottigen, gehörnten Gestalten bleiben so geheimnisvoll wie das Dunkel, das sie gebar – und am Dreikönigsfest wieder aufnimmt. Bis zum nächsten Jahr …“
Ebenso bietet das japanische Inselreich eine Fülle an Ungeheuern und Dämonen. Gestaltwandler, Mischwesen oder langhaarige Mädchen, die aus Fernsehern kriechen … die Liste ist lang und schrecklich … Tatjana Beckmann hat eines dieser Wesen – die Bakeneko – aus dem „Land der aufgehenden Sonne“ in heimische Gefilde gebracht: „Horror hinter dem Jägerzaun, das Grauen schwärt unter der hübsch ordentlichen Fassade der Reihenhaussiedlung, die Katze sitzt auf der Treppe und grinst tückisch wie ein Vampir mit ihren zwei verbliebenen Zähnen. Sie meinen, Katzen grinsen nicht? Sie haben ja keine Ahnung. Mina liegt seit einem Jahr im Garten unter dem Dahlienbeet, aber nachts in meinen Träumen, da hockt sie auf meinem Bett, klapprig wie sie war, als sie noch aus der Dose fraß, und erzählt Geschichten, die mir das Blut in den Adern gefrieren lassen, während ich mitschreibe. Und ich schwöre Ihnen, dabei grinst sie die ganze Zeit. Sie glauben mir immer noch nicht? Dann lesen Sie ‚und die Katze tanzt allein“’. Aber beschweren Sie sich nicht bei mir, wenn Sie nachts vom schleifenden Geräusch krallenbewehrter Pfoten auf dem Parkett geweckt werden, obwohl Sie gar keine Katze besitzen. Ich habe Sie gewarnt …“
Natürlich dürfen in unserer Sammlung auch die modernen Mythen nicht fehlen. Wie etwa die Geschichte vom Jabberwocky, der erstmals in einer Geschichte von Lewis Carroll auftaucht. Inspiration für die österreichische Autorin Christine Jurasek: „Das Bestiarium hat mich vom Namen her schon fasziniert. Ein Wort, in dem eine Bestie steckt. Also eine Kreatur, der man nicht im Entferntesten begegnen will und die gerade deshalb starke Anziehungskraft ausübt.
Die Alpen, in denen ich mich oft und gern bewege, finde ich aufbauend und anregend. Nicht umsonst liefern sie Füllstoff für eine Menge Sagen und Legenden.
Der Kontrast zwischen beschaulichen Almen und schroffen Steinformationen beflügelt die Fantasie. Über weite Strecken ist das Gebiet unwirtlich – also ein idealer Unterschlupf für ein Geschöpf, das möglichst nicht gesehen werden will.
Deshalb habe ich Jabberwocky dort angesiedelt.
Den Erstkontakt mit Jabberwocky hatte ich im Kino in den späten 1970er Jahren. Terry Gilliam in seinem gleichnamigen Fantasyfilm nahm auf satirische Weise das Mittelalter aufs Korn.
Die Parodie war als Antwort auf die amerikanischen Monsterfilme gedacht.
Jabberwocky, ein drachenähnliches Untier, sieht man hier nie zur Gänze – nur seinen Schatten und seine Spuren, die er hinterlässt, und die sind ungeheuer blutig und barbarisch. Es hat mich fasziniert, wie sich das filmisch umsetzen lässt.
Diese und andere unsympathische Eigenschaften Jabberwockys – wie jene, dass er ungemein stinkt und nur nachts mordet –, habe ich für meine Geschichte übernommen.“
Besonders zeitgemäß interpretiert Cornelia Theda ihren Mythos. Hier wird der menschenfressende Zyklop zum menschenverschlingenden Haushaltsgerät …
„Es ist so, dass meine Fantasie ständig mit mir durchgeht und ich mir die irrsinnigsten Szenarien vorstellen kann, wenn mir jemand ein Stichwort liefert.
Die Geschichte von dem alles fressenden Staubsauger entstand, nachdem ein Freund erzählte, dass seine Frau einen Staubsaugerfimmel hat und sogar die Fugen aus den Fliesen saugt. Prompt begann ich mir vorzustellen, was er noch alles anstellen könnte und mein Gehirn lieferte mir derart kranke Bilder, dass ich keine Wahl hatte. Ich musste sie aufschreiben. Nachdem sie fertig war, habe ich gedacht „wie bekloppt muss man eigentlich sein, um sich so etwas auszudenken?“ Ziemlich – so viel steht fest. Aber jetzt geht’s mir wieder gut – bis zur nächsten irren Idee.“
Eine ebenso ausgefallene Idee beflügelte unsere Autorin Angela Hoptich zu ihrer Geschichte, denn die gruseligen Wasserspeier und steinernen Fratzen an den Fassaden und Türmen der großen Kathedralen waren ohnehin immer geheimnisumwittert und unheimlich.
„Gargoyles – Diese kunstvoll gemeißelten Wasserspeier mit den grässlichen Fratzen, die uns seit der Antike begleiten, sind Wächterfiguren. Ihre Aufgabe ist es, das Böse draußen zu halten, es abzuschrecken. Sie verteidigen mit aller Macht (der Imagination) die Reinheit eines Hauses. Eine absurde Gratwanderung zwischen Gut und Böse.
Die steinernen Dämonen beflügelten meine Fantasie schon seit der Kindheit. Ob in meiner Heimatstadt oder auf diversen Urlaubsreisen: die Biester verfolgten mich. Meist saßen sie an Kirchenfassaden und blickten recht lebendig auf mich herab. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob sie mir wohl gesonnen waren oder ob ich mich fürchten sollte. War ich gut oder böse? Oder beides zugleich?
Was lag also näher, als sie in einer Geschichte tatsächlich zum Leben erwachen zu lassen und es herauszufinden?“
Damit endet unser kurzer Blick hinter die Kulissen unseres „Bestiariums“. Es war mein Bestreben eine möglichst vielfältige Auswahl von grausigen Monstern, bösen Ungeheuern und blutrünstigen Bestien zu treffen. Auch wenn die neunzehn Geschichten dieser Anthologie nur einen kleinen Ausschnitt aus der großen Welt geheimnisvoller Wesen bieten, so ist es dank des Einfallsreichtums unserer Autorinnen und Autoren gelungen, eine ebenso spannende, wie lesenswerte Mischung zu kreieren.
Mein Dank gilt daher den Schöpferinnen und Schöpfern dieser großartigen Phantasmagorien und ihrer Bereitschaft in Zusammenarbeit mit meiner Lektorin Iwo das Beste herauszuholen, was möglich war.
Ein besonderer Dank geht auch für diese Anthologie wieder an Florian und Hans Jürgen, die diesen Band nicht nur um ihre fantastischen Geschichten bereichert haben, sondern durch ihren unermüdlichen Einsatz erst gewährleistet haben.
Gruseligen Spaß bei der Lektüre wünscht Euer Herausgeber
Detlef Klewer